Graduiert in Cambridge, zwanzig Jahre (1965-1985) als Dozent in Oxford tätig, ist er heute ein Professor in Cambridge und wurde für das nächste Jahr als Vorstand für die Ostasiatische Fakultät in Oxford vorgeschlagen. Glen Dudbridge erwarb sich in der britischen Sinologie einen immer höheren Bekanntheitsgrad. Folgend ein Interview, das "Sinorama" (ebenfalls herausgegeben von der Kwang Hwa Publishing Company) mit ihm am Magdalena College in Cambridge führte.
Sinorama: Wie kam es, daß Sie sich für Sinologie interessierten?
Dudbridge: Es gibt da eigentlich nichts von einer besonderen Vorbestimmung zu erzählen. Zu meiner Zeit mußten wir nach dem Abschluß des Gymnasiums zwei Jahre Militärdienst leisten. Bei der Luftwaffe lernte ich bereits zwei Jahre Russisch, und als wir zur Universität kamen, wollte ich etwas über eine außereuropäische Kultur studieren und nicht wie meine Kollegen Deutsch oder Französisch. Damals erwähnte einer meiner Mitschüler, daß er Chinesisch lernen wolle. Das war genau das, wonach ich suchte. Er ist heute der Britische Botschafter in Ungarn und hat mit Chinesisch nichts zu tun. Für mich wurde dieser Tag zum Schlüsselereignis für mein ganzes Leben. Als ich am Sinologischen Institut eintrat, war alles konfus, ein anfängliches Umhertasten, und meinen Kollegen aus dem Semester erging es fast allen genauso.
Sinorama: Sich für ein Sinologiestudium zu entscheiden, erfordert sehr viel Mut. Haben Sie, während Sie sich mit einer völlig fremden Kultur beschäftigten, jemals Zweifel oder das Gefühl gehabt, daß Sie es nicht schaffen?
Dudbridge: Diese Gedanken sind für jemanden, der Chinesisch lernt, kaum vermeidbar. Vor allem in den ersten ein bis zwei Jahren, wenn man die Grundlagen studiert, unentwegt hart arbeitet und keinen Erfolg sieht, wird einem das zu Lernende zu viel. Der Kopf ist zwar voller chinesischer Schriftzeichen, doch wenn man ein Buch in die Hand nimmt, versteht man es noch immer nicht. Vor allem sind die Unterschiede zwischen klassischem Chinesisch und moderner Umgangssprache sehr groß. Jedes hat seine eigenen Schwierigkeiten. Das läßt manchmal Frustration aufkommen. Glücklicherweise hatten viele von uns Griechisch oder Latein studiert, weshalb wir wußten, daß der einzige Weg, eine fremde Kultur zu verstehen, darin besteht, langsam vorzugehen und nichts zu übereilen.
Sinorama: Wie kam es, daß Sie sich auf klassische Romane spezialisiert haben?
Dudbridge: Ich habe Literatur schon immer gemocht, und zu jener Zeit tendierte die Forschung zu klassischer Fiktion und klassischem Drama. Professor Chang Hsin-ts'ang war mein Dozent im dritten Studienjahr und er nahm mich unter seine Fittiche. Die Wahl des Hsi yü chi (Die Reise nach dem Westen, 西遊記) als Thema meiner Dissertation war auch das Resultat von Gesprächen mit ihm. Natürlich wußte ich anfangs noch nicht, welche Richtung meine Forschungen einschlagen würden. Schritt für Schritt fand ich heraus, daß die 100 Kapitel umfassende Version des Romanes mich nicht so sehr interessierte wie das "Wie" die Geschichte aufkam und Gestalt annahm. Deshalb befaßten sich auch meine Dissertation und mein erstes Buch (The Hsi yü chi: A Study of Antecedents to the Sixteenth-Century Chinese Novel; Cambridge, 1970) mit diesem Thema.
Sinorama: Sind deshalb ihre Forschungsgebiete Editionsvergleich und Textkritik?
Dudbridge: Ja, aber das ist nur ein Teil. Außerdem beschäftige ich mich nebenbei mit frühen chinesischen Novellen, Dramen, Märchen, Volksgeschichten und ähnlichem.
Sun Wu-kung gebietet mit seiner goldbereiften Eisenstange einem gehörnten Dämon Einhalt, der nach dem Fleisch des Mönches T'ang Seng trachtet. T'ang Sengs Fleisch verleiht der Sage nach jedem, der davon ißt, ewige Jugend und Unsterblichkeit.
Besonders gegenüber dem Affen Sun Hsing-che (孫行者) empfinde ich Neugierde. Warum konnte in einem Buch ein Affe als Hauptperson auftreten? Seit 1954 gab es natürlich viele Gelehrte, die dies erforschten; egal ob die vom Inhalt ausgehende Textkritik, die in der Erzählung selbst nach Antworten sucht, die außen ansetzende Textkritik, die in anderen Überlieferungensammlungen nach Antworten sucht oder populären Erklärungen, sie alle sind sehr verwirrend. Erst als ich mich selbst an die Arbeit machte, stellte ich fest, daß die meisten Theorien nicht genügend stichhaltig sind. Weil es nicht genügend Informationen gibt, schrieb ich deshalb in meinem Aufsatz nur die pessimistische conclusio, daß es keine Lösung des Problems gäbe. Von 1970 bis heute gab es in einem fort Personen, die neue Quellen und Forschungsmaterial veröffentlichten. Aber als ich vor zwei Jahren nach Taipei ging und an einer in der Zentralbibliothek abgehaltenen internationalen Diskussionsrunde über mingzeitliche Dramen und Romane teilnahm, stellte ich, als das Thema erneut von einem Experten hervorgebracht wurde, fest: "Hm, es geht noch immer nicht".
Sinorama: Ich kann mich erinnern, daß ich, als ich klein war, die indische Geschichte eines göttlichen Affen las. Darin enthalten sind viele Details, die dem Hsi yü chi ähneln. Gibt es zwischen den beiden eine Verbindung?
Dudbridge: Ja, bezüglich der Beziehung zwischen dem Affen Ramayana und Sun Hsing-che stellen etliche Personen Nachforschungen an. Ich gebe auch zu, daß die beiden viel gemeinsam haben. Aber das reicht mir noch nicht, erstens, wenn man behauptet, daß das Hsi yü chi vom Ramayana beinflußt wurde, muß man auch erklären, wie dieser Einfluß zustande kam. Wann tauchte die Geschichte zum ersten Mal in China auf? Doch sind die Beweise diesbezüglich äußerst rar. Im Buddhistischen Kanon gibt es einige Hinweise, die aber nicht konkret genug sind. Zweitens, angenommen daß Sun Hsing-che sich wirklich von Ramayana ableitet, dann reicht das noch immer nicht aus, um zu erklären, weshalb es im Hsi yü chi einen Affen gibt. Steht er mit dem buddhistischen Mönch Hsüan Tsang (玄奘) in irgendeinem notwendigen Zusammenhang? Mir fällt das Detail ein, daß Sun Hsing-che in den Himmelspalast der Westkönigin klettert und Unsterblichkeitspfirsiche stiehlt. Pfirsiche symbolisieren in China Glück und langes Leben und sie repräsentieren eine tiefe religiöse Symbolik. Im Pfirsichstehlen ist der Affe ein Meister.
Sinorama: Sie haben auch Forschungen angestellt, warum es im Hsi yü chi das Flußmonster (沙和尚) und das Schwein Chu Pa-chieh (豬八戒) gibt.
Dudbridge: Ja, der Ursprung des Flußmonsters ist am einfachsten zu erklären. Früh, schon in den t'angzeitliehen Überlieferungen über Hsüan Tsang erwähnt, ereignet es sich, daß Hsüan Tsang in der Wüste seine Wasserflasche verliert. Im Traum erscheint ihm ein Gott. Nachdem er aufwacht, findet sein Pferd den Weg und leitet ihn, Wasser zu finden. Der Gott im Traum ist im Buddhistischen Kanon der Wüstengott Shen Sha (深沙神). Das Schwein Chu Pa-chieh wurde dem Roman später hinzugefügt. In der Sung-Ausgabe des Hsi yü chi gibt es nur den Affen und das Pferd. Das ist alles nicht schwer. Doch ist halt noch immer das Problem des Affen am interessantesten.
Sinorama: Eine Zeit lang war "Vergleichende Literatur" sehr populär. Es gab etliche Personen, die mit Hilfe verschiedener westlicher Anschauungen die chinesische Literatur untersuchten. Zum Beispiel findet sich im Hsi yü chi eine Stelle, an der ein echter und ein falscher Sun Wu-kung (= Sun Hsing-che) miteinander kämpfen. Einige Leute sagen, der echte und der falsche Sun Wu-kung sind beide Sun Wu-kung. Sie sind das "Ich" und das "Über-Ich" im Zwiespalt, im Kampf. Wie stehen Sie zu solchen Ansichten?
Dudbridge: Richtig, in der Ming-Ausgabe, ja selbst in der Ramayana-Überlieferung existiert der Kampf zwischen dem echten und dem falschen Affen. Ich glaube zum gesamten Problem der Betrachtungsweise, daß es ein Leichtes ist, aus einem Buch wie dem Hsi yü chi verschiedene "tiefe" Bedeutungen herauszulesen. Ein Marxist findet in ihm eine Erklärung des Marxismus, ein Gelehrter für die psychologische Entwicklung von Kindern wird sagen: "Ah, da steht ja alles ganz klar geschrieben". Sogar die Neokonfuzianer und die Taoisten der "Fünf Elemente Schule" können ihre Ideen alle in der Geschichte unterbringen. Ganz egal wie man es erklärt, es paßt immer. Deshalb bin ich an einer solchen Literaturkritik nicht besonders interessiert.
Wenn ich chinesische Literatur lese, ist nicht die Auslegung mein Ansinnen, sondern warum die chinesische Gesellschaft diese Art von Literatur hervorgebracht hat, und was der Hintergrund in bezug auf Bräuche, Glauben, Geschichte und ähnlichem ist. Ich habe den Hang, Literatur eher von einer soziologischen statt von einer anthropologischen Warte aus zu lesen.
Sinorama: Was lesen Sie aus dem Hsi yü chi heraus? Haben Sie eine Schlußfolgerung?
Dudbridge: Nur eine einleitende Schlußfolgerung. Es ist halt noch immer so, daß ich nicht genügend Beweise finde. Zuerst bemerkte ich, daß es bis heute während Begräbnisprozessionen in Hongkong, Singapur und anderen Orten Charaktere aus dem Hsi yü chi, wie etwa Sun Hsing-che, Chu Pa-chieh und andere gibt. Sie sind in Opernkostüme gekleidet und hüpfen hin und her. Durch welche Vorstellung konnten diese witzigen und interessanten Charaktere mit Trauerzügen in Verbindung gebracht werden? Mein gegenwärtiger Eindruck ist, daß für T'ang Seng, der nach dem Westen reiste, um den Buddhistischen Kanon zu holen, der Westen einerseits Indien, andererseits auch das Paradies ist. Weil der Weg gefährlich war, bedurfte es vieler Götter und Geister, um die Dämonen zu verjagen. Da T'ang Seng bereits in den Westen gereist war, führt er auf dem Weg, und seine populären Anhänger (das Schwein und der Affe) beschützen die Seele des Verstorbenen auf dem Weg in den Westhimmel. Obwohl diese Theorie einleuchtet, besteht gegenwärtig das Problem, ob es in der T'ang- und der Sungzeit bereits die Vorstellung des "in den Westhimmel steigen" gab. Die Autoren beschrieben in der Regel keine Trauerzüge, da dies kein gutes Thema zum Schreiben ist. Es fällt mir ein, daß es in der Han-Dynastie den sogenannten "Fang Hsiang" (方相, ursprünglich ein Personenname) gab. Seine Aufgabe war es, Geister zu verjagen. Er und sein zwölf Personen umfassendes Gefolge tragen Tierfelle und Masken. Vor allem zu Neujahr werden sie aufgerufen zu hüpfen, zu tanzen und um sich zu schlagen. Doch ist ein diesbezüglicher Zusammenhang meine eigene Vermutung, für die ich über nicht genügend Belege verfüge.
Sinorama: In welchem Material kann man einfacher Beweise finden?
Dudbridge: Meines Erachtens gibt es da vor allem zwei Wege: literarische Skizzen und Gespenstergeschichten aus der T'angzeit, die, obwohl sie Fiktion sind, nicht wenig über Wissen und die Vorstellungen nicht nur über das Leben literarisch Gebildeter sondern auch über den Alltag auf dem Land enthalten. Eine weitere Möglichkeit bietet die Archäologie: Die Kommunisten haben in den letzten Jahrzehnten ununterbrochen alte Gräber, Tempel und Gravierungen auf buddhistischen Steinstelen freigelegt. Es gibt eine Unmenge von Ausgrabungen. So sah ich einst in dem kommunistischen Monatsmagazin Wen Wu das Bild einer in Kansu ausgegrabenen, aus der Nördlichen Sung stammenden Steinstele, auf der ganz deutlich T'ang Seng, der Affe und das Pferd zu sehen sind. Auf dem Rücken des Pferdes befindet sich der Buddhistische Kanon. Da solche Informationen sehr wertvoll sind, muß man auch ein Auge auf die Archäologie haben.
Sinorama: Müssen Sie in großem Umfang Material über alte Kunstgegenstände in China sammeln?
Dudbridge: Mein Interesse gegenüber der Forschung ist etwa wie folgt: mein Kerngebiet, zum Beispiel "der Affe im Hsi yü chi" ist natürlich sehr klein. Um allerdings zu forschen, kann man nicht umhin, weitreichenderes Quellenmaterial zu sammeln. Deshalb schaue ich nicht nur aus der Perspektive des Romans auf die Geschichte, sondern ich gebrauche die gesamte chinesische Kultur, um den Roman zu betrachten. Bei dem Satz "die gesamte chinesische Kultur" bin ich etwas betreten, weil mein eigenes Wissen allzu begrenzt ist und ich viel zu wenig verstehe.
Sinorama: Könnten Sie bitte etwas über ihr zweites Buch über die Miao-shan Überlieferung (妙善傳說) sagen?
Dudbridge: Miao-shans Geschichte steht mit Kuan Yin, der Göttin der Barmherzigkeit in Zusammenhang. Obwohl sie nicht, wie etwa das Hsi yü chi oder das San kuo yen i (Der Roman der drei Reiche, 三國演義) ein großes klassisches Werk ist, so findet diese populäre Überlieferung im Volk doch eine breite Leserschaft. Die Geschichte ist es wert genauer erforscht zu werden. Ihr Inhalt lautet in etwa so: Prinzessin Miao-shan war die dritte Tochter von König Miao-chuang. Sie vertiefte sich in den Buddhistischen Kanon, aß vegetarisch und weigerte sich zu heiraten. Der Vater vertrieb sie zuerst in großem Zorn und ließ sie in einem Nonnenkloster hart arbeiten. Als der Vater sah, daß ihr Wille nicht zu beugen war, verbrannte er das Kloster. Miao-shan kam in die Hölle. Doch da sie in Wirklichkeit die Göttin der Barmherzigkeit war, erblühten in der Hölle überall Lotusblumen, und die Sünder durften alle die Hölle verlassen. Nachdem sie der Hölle entkam, ließ sie sich auf dem Hsiang Berg nieder. Bald darauf erkrankte König Miao-chuang und war daran zu sterben, weshalb er als Medizin die Augen und die Arme der Unsterblichen des Hsiang Berges - Miao-shan - essen mußte. Sie opferte Augen und Arme, um den Vater zu retten. Nachdem Vater und Tochter schließlich vereint waren, wandelte sich Miao-shan zur "Kuan Yin mit tausend Armen und Augen".
Als ich die Geschichte zum ersten Mal sah, erschien sie mir sehr seltsam. Warum wollte der Vater die Tochter töten, etwa nur, weil sie nicht heiraten wollte? Ich stellte einige Nachforschungen an und fand heraus, daß die Geschichte in der Sung-Dynastie anfing und in einer direkten Verbindung mit der Saddhama-pundarika Sutra (妙法蓮華經) steht. Die Mädchen im alten China waren von jeher sehr schlecht dran und hatten keine Autorität, ihre Hochzeit frei zu bestimmen. Doch fand ich heraus, daß es einige Mädchen gab, die nicht willens waren zu heiraten. Sie verfügten über einige Unterrichtsgruppen und Vereinigungen, und Bücher wie die Miao-shan Überlieferung waren genau das, was sie zu lesen pflegten.
Sinorama: War es zuerst das Werk, das diese Bewegung anspornte oder gab es zuerst einen psychologischen Bedarf, der diese Art von Literatur hervorbrachte?
Dudbridge: Die Überlieferung über die Göttin der Barmherzigkeit war ursprünglich nur rein religiöser Natur. Später kombinierte man sie mit der Person einer Prinzessin, fügte den Teil, in dem die Göttin in die Hölle kam, hinzu, und im Laufe der Zeit entwickelte und wandelte sie sich noch in vielfältiger Weise. Aus all dem kann man sehen, daß sich die Geschichte änderte, um sich dem gesellschaftlichen Bedarf anzupassen. Das ist ein Beispiel, in dem die Forschungen über die chinesische Gesellschaft und chinesische Novellen in Zusammenhang stehen. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Problembereiche, die es Wert sind, bearbeitet zu werden.
Sinorama: Sie erwähnten, daß Miao-shan mit chinesischen Frauen in Zusammenhang steht. Ist die Göttin der Barmherzigkeit im Buddhistischen Kanon sowohl männlich als auch weiblich?
Dudbridge: Ursprünglich ist Kuan Yin im indischen Buddhismus männlich, erst in China fand die Verwandlung in eine Frau statt. Auch dies wird von vielen Personen erforscht. Vielleicht ist die Miao-shan Überlieferung ein Schlüsselpunkt zu dieser Frage. Aber diese Art von Erörterung ist auch eine falsche Art, die Dinge anzugehen und führt zu Mißverständnissen. Ich ging mit Absicht von einer anderen Ecke aus, um den Charakter dieser Erzählung zu erforschen. Der Rest kümmert mich nicht im geringsten.
Sinorama: Ich habe auch gehört, daß Sie über die Geschichte der Li Wa, das Li Wa chuan (李娃傳) geschrieben haben, das an amerikanischen Hochschulen von vielen Anfängerkursen über Novellen aus der T'angzeit als Nachschlagewerk gebraucht wird.
Dudbridge: Ja, das Li Wa chuan ist äußerst interessant, eine Geschichte, die die Aufmerksamkeit vieler Studenten auf sich zieht. Ich habe darüber alljährlich unterrichtet, und jedes Jahr gab es neue Entdeckungen - Besonderheiten im Hintergrund und Anspielungen auf klassische oder historische Begebenheiten. Eines Tages entschloß ich mich, mich hinzusetzen und es von Kopf bis Fuß in Ordnung zu bringen. Dabei wandte ich die Methode an, mit der westliche Gelehrte Shakespeare untersucht haben. Ich fügte die Anspielungen einer jeden Zeile meiner Textkritik hinzu. Danach übersetzte ich es, versah es mit Anmerkungen, reihte verschiedene Anmerkungen Seite an Seite und schrieb noch eine fast hundertseitige "Anleitung", wobei ich das Li Wa chuan bis an die Grenzen meiner Möglichkeiten ordnete. So eine Arbeit ist in etwa so, als ob man einen Backstein hinwirft, um einen Edelstein anzuziehen. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Werke, die eine ähnliche Bearbeitung verdienen würden.
Sinorama: Betreiben Sie nebenbei auch Studien über moderne chinesische Literatur?
Dudbridge: Ehrlich gesagt gilt mein Interesse dem Altertum, moderne Romane betrachte ich nur ab und an.
Sinorama: Nach dem Opiumkrieg unterzog sich die chinesische Gesellschaft einem großen Wandel. Wenn sie in den alten Romanen die chinesische Gesellschaft betrachten, finden sie da die Unterschiede zur heutigen Gesellschaft sehr groß?
Dudbridge: Nicht unbedingt. Das ist, als ob einer in der Bibliothek von Cambridge sitzt, Bücher und Romane liest und durch klassische Novellen und Romane die chinesische Gesellschaft verstehen will; da bestünde nicht viel Hoffnung. Wir wären trotz erstklassiger Informationen im Buch nicht in der Lage, sie zu verstehen. Das muß man selbst erfahren. Um für mich selbst zu sprechen, ich ging für ein Jahr in Hongkong am Institut für neue asiatische Literatur (Hsin ya shu yüan) zur Schule und verbrachte das Jahr mit einer Gruppe chinesischer Mitschüler. Durch meine eigenen Erfahrungen konnte ich plötzlich viel mehr herauslesen. Um noch einmal auf die alte und die moderne Gesellschaft zu sprechen zu kommen: Wenn Sie die Leute in Taiwan oder Hongkong kennen und dann zurück auf das Hong lou meng (Der Traum der roten Kammer, 紅樓夢) oder das Ju lin wai shih (Der Weg zu den Weißen Wolken, 儒林外史) sehen, so kommen einem die Charaktere noch immer sehr vertraut vor. Und obwohl es keine Landadelsfamilien mehr gibt, sind die Personen noch immer Chinesen, und deren Charakter ist im Grunde noch immer derselbe. Große Werke sind großartig, weil sie universal sind. Wenn sich der Affe und das Schwein im Hsi yü chi streiten, ist das doch auch sehr menschlich, oder? Aber das ist einfach gesagt, es den Schülern zu vermitteln, erweist sich als schwer.
Sinorama: Was sind ihre neuesten Forschungen?
Dudbridge: Über das im T'ai p'ing kuang chi (太平廣記) - einer 500 Kapitel umfassenden Sammlung seltsamer Erzählungen und Geschichten - enthaltene Kuang i chi (廣異記). Das Kuang i chi ging bereits sehr früh verloren, aber etliche Abschnitte sind im T'ai p'ing kuang chi enthalten. Ich schrieb eine vorhergehende Studie, um die ursprüngliche Form, den Autor und die Entstehungszeit festzulegen: Der Inhalt des Buches ist äußerst interessant. Sein Autor, Tai Fu (戴孚), war ein kleiner Beamter nach der Rebellion des An-Lushans. Er schrieb all die Geschichten, die er in Teehäusern oder Gaststuben gehört hatte nieder und hielt damit die religiösen Ideen und Volksbräuche seiner Zeit fest.
Sinorama: Ist das auch "die Gesellschaft durch eine Erzählung betrachten"?
Dudbridge: Ja, aber das T'ai p'ing kuang chi ist nur ein Ausgangspunkt, man muß ferner noch lokale Aufzeichnungen, Inschriften, Prosatexte und offizielle und inoffizielle Geschichtswerke unter die Lupe nehmen. Das und vor allem die Steininskriptionen sind alles wertvolle Informationen. Seit der Sung-Dynastie hatten die Gelehrten die Vorliebe, Inschriften zu gravieren, wobei das Augenmerk der Kalligraphie galt, doch haben die Texte auch historischen Wert und sollten genauer erforscht werden.
Ein Beispiel: Im Kuang i chi gibt es eine Geschichte, die davon berichtet, daß im Distrikt An Yang hintereinander etliche Bezirksrichter starben, worüber die Leute in Panik gerieten. Schließlich kam ein weiterer Bezirksrichter, der die ganze Nacht Wache hielt. Tatsächlich erschien der Geist einer historischen Persönlichkeit aus der nördlichen Chou-Dynastie namens Yü Ch'ih-hui (尉遲迥). Weil er im Widerstand gegen die Sui-Dynastie starb und sein Leichnam unter dem Bezirksgericht verscharrt lag und nicht ordnungsgemäß begraben worden war, kam er hervor und spukte. Der neue Richter versprach, für ihn ein Begräbnis zu arrangieren. Danach war es nicht nur ruhig, ohne weitere Vorkommnisse, sondern der Geist beschützte auch zukünftig die Familie des Richters.
Nachdem ich die Geschichte gelesen hatte, fand ich heraus, daß in einem Tempel die Inschrift des Kalligraphen Yen Chen-ch'ing (顏真卿) existiert, die von dem Vorfall berichtet. Doch weist die Version etliche Diskrepanzen zum Kuang i chi auf. Später entdeckte ich, daß die offizielle Geschichtsschreibung auch von der Sache berichtet. In einer Inschriftensammlung gibt es eine weitere Quelle, die von demselben Bezirksrichter berichtet. Ich verglich die vier Materialien und untersuchte die gegenseitigen Beziehungen textkritisch.
Sinorama: Aber wie konnten Sie wissen, wo sich die Inschrift befand?
Dudbridge: Ich ging Schritt für Schritt langsam vor und fand alles genau zur rechten Zeit. In der Forschung ist neben dem geschickten Umgang mit den Arbeitsmaterialien und der Anwendung aller wissenschaftlichen Methoden auch wichtig, eine gute Portion Glück zu haben: Es gibt zum Beispiel sehr gute Indizes über Steininschriften. Eines Tages, ich war beim Umblättern, entdeckte ich unbeabsichtigterweise die drei Schriftzeichen Yü Ch'ih-huis. Ich fühlte, daß ich auf der richtigen Spur war, schaute genauer nach und stellte fest, daß es sich genau um die Geschichte handelte! Eine solche Entdeckung ist ein Genuß, für den man nur dankbar sein kann.
Sinorama: Kommt das nicht auch daher, daß Sie ohnehin in Gedanken immer bei dieser Geschichte waren?
Dudbridge: Auch, Liang Ch'i-ch'ao (梁啟超) erwähnte in einem Artikel, daß wenn man über ein Thema nachdenkt und viel Zeit und Arbeit investiert, einem oft das, wonach man sucht, "entgegenspringt". Ich kann tausend Seiten Chinesisch übersetzen und bin danach in der Lage, sehr schnell all die Stellen mit dem Namen Yü Ch'ih-huis herauszupicken. Das menschliche Gehirn ist sehr eigenartig. Wenn man sich auf etwas konzentriert, helfen einem die Augen von ganz allein, das Gewünschte zu suchen.
Sinorama: Also ein taktisches Abkommen zwischen Gehirn und Auge?
Dudbridge: Ja, aber man muß auch ausführliche Notizen über jeden Abschnitt machen. Nach ein bis zwei Jahren hat man dann einen ganzen Berg an Informationen.
Sinorama: Haben Sie noch vor, gewisse Probleme zu erforschen, obwohl Sie sich bewußt sind, daß kaum genügend verläßliche Quellen vorhanden sind?
Dudbridge: Manchmal ist es unmöglich, ein Problem zu lösen. Manchmal setzt man sich am besten einen Punkt, an dem man aufhört und sagt: "bis hier hin und nicht weiter". Zuerst kann man dann einen Aufsatz schreiben, und wenn es keine conclusio gibt, dann gibt es eben keine: Meiner Forschung über das Hsi yü chi erging es genauso. Nach weiteren zehn Jahren werden langsam neue Dinge entdeckt, und es gibt neue Ideen. Daran, so finde ich, ist nichts Schlechtes. Man braucht nur nicht ganz aufzugeben, dann wird es schließlich einen Tag geben, an dem man eine befriedigende Antwort finden wird.
Sinorama: In England zählt die Sinologie zu den weniger gefragten Fächern und die Spezialisten für klassische Novellen sind noch rarer gesät. Fühlen Sie sich manchmal einsam?
Dudbridge: Das ist eine gute Frage. In der Regel ist es schon ein bißchen einsam. Für mich kommt der größte Genuß beim Forschen und nicht im Umgang mit anderen Leuten, am meisten dann, wenn man das Material in Angriff nimmt, neue Entdeckungen macht, die dann das eben erwähnte Gefühl der Dankbarkeit hervorrufen. Ich hoffe nicht, daß meine Bücher von zig Tausenden von Lesern gekauft werden. Wenn ich drei Leser habe, die sich meine Werke zu Gemüt führen, so ist das mehr als genug und rechtfertigt bereits den Aufwand. Wenn ich manchmal einen Brief erhalte, jemand gelegentlich meint, daß meine Bücher interessant sind, und mich besuchen will, dann war all die Arbeit nicht umsonst. Wegen diesen Forschungen las ich viele Bücher und fand viele gute Freunde. Was will man noch mehr?
(Deutsch von Markus Fürst)